MARIE CARDINAL

 

 

 

Zum 90. Geburtstag

Überall zuhause, nirgends zuhause“

 

 

 

„Jetzt wo ich mich dessen Ende nähere, finde ich, dass das Leben schön und schwierig ist. Extrem schön und extrem schwierig. Ich bin froh, es gelebt zu haben, aber ich wollte es nicht noch einmal leben“. Das schreibt die 63jährige Autorin des Bestsellers des Jahres 1975 „Schattenmund“, in dem sie ihre acht Jahre währende Therapie erzählt, welche eine schwere psychische Erkrankung 1960 unumgänglich gemacht hatte. Ihr Leben war nicht linear verlaufen, es ist von tiefen Brüchen und Einbrüchen gesäumt, die oft den geschichtlichen Ereignissen ihrer Zeit geschuldet sind. Sie wird am 9. März 1929 in Alger, in einer reichen, gebildeten Familie von französischen Kolonisten geboren, die seit 1836 in Algerien lebt.

„Ich bin das Produkt einer misslungenen Abtreibung“. Ihre Mutter wollte sie nicht: Sie hatte gerade die Scheidung eingereicht, die Schwangerschaft kam denkbar unpassend. Marie wird in einem Frauenhaushalt groß an der Seite ihrer Mutter und ihrer Großmutter. Ihre Erziehung richtet sich an den starren Prinzipien des katholischen Großbürgertums, die aus ihr eine brave, untertänige Ehefrau, einen angenehmen Herdenmensch machen sollen. Gegen diese Saat wird Marie Cardinal für den Rest ihres Lebens ankämpfen müssen. Sie erwirbt 1948 ein Diplom in Philosophie, heiratet 1953 den gleichaltrigen Akademiker Jean-Pierre Ronfard. Ab dann geht es schnell bergab mit ihr. Drei Kinder werden in vier Jahren geboren. Das Paar wird nacheinander nach Griechenland, Portugal und Wien versetzt, wo sie an französischen Gymnasien unterrichten, während in Algerien der Unabhängigkeitskriegt tobt. 1957 verlässt Marie ihre geliebte Heimat, nicht wissend, dass sie dort nie wieder leben können und dürfen wird. Sie wird diesen Verlust ihrer gekappten Wurzeln und der ihr am Herzen liegenden Muslime, die ihre wahre Familie gewesen waren, zeitlebens nie verschmerzen. Von da an gestaltet sich ihr Leben im ewigen Exil. „Überall zuhause, nirgends zuhause“. Sie folgt ihrem Mann nach Kanada. Das Paar trennt sich aber bald, beschließt eine Fernbeziehung. Marie kehrt mit den drei Kindern nach Paris zurück, unterzieht sich einer Therapie, da ihr psychischer Zustand alarmierend ist. Sie muss parallel dazu den gemeinsamen Lebensunterhalt sichern und ernährt die Familie von ihrer Feder. Sie findet dank ihrer Diplome Jobs bei verschiedenen Zeitungen der Hauptstadt als freie Mitarbeiterin, wird zudem Ghostwriterin.

Es sind Jahre des sozialen Abstiegs, der Armut, des Verzichtes und des Verlustes. Verlust des Paradieses ihrer Kindheit, Verlust des Wohlstands, Verlust der sozialen Kontakte, Verlust des gesellschaftlichen Status als allein erziehende Mutter ohne Mann. Das krank machende Heimweh versucht die Heimatlose durchs Schreiben über ihre Heimat Algerien zu bezwingen. Sie publiziert mehrere Bücher. 1972 veröffentlicht sie ihre autobiographische Erfahrung als Mutter von Teenagern in den nach- 68er Jahren in einer Art Kommune, in totaler Abkehr ihrer eigenen verlogenen Erziehung. Ihre Wohnung wird zum Refugium aller gestrandeten Freunde ihrer Kinder. Das Buch „Der Schlüssel liegt unter der Matte“ wird ein Riesenerfolg. Es wird verfilmt. Und drei Jahre später wird „Schattenmund“ zu 3 Millionen Exemplaren verkauft und in 20 Sprachen übersetzt (auch dieses Buch sollte verfilmt werden). Marie, nun eine Erfolgsautorin, wird Lesungen und Vorträge in der ganzen Welt halten. Ihre Bücher sind alle Autobiographien, die sie als Fiktionen tarnte. Alle handeln von den typischen Problemen von Frauen in der schwierigen Welt des 20. Jahrhunderts: Die Wohnungsnot in den Großstädten, der schwierige Arbeitsmarkt, die Ehe, die Mutterschaft, die Sexualität, die Liebe, die Partnerschaft, das Generationsproblem, die Einsamkeit.

Suzanne Bohn wird mit Hilfe prägnanter Passagen, die sie aus dem Werk lesen wird, durch ein bewegtes Frauenleben führen. Dies ist eine bewährte Methode, die sie bereits bei Benoîte Groult und Gisèle Halimi mit großem Erfolg anwandte.

 

 

 

 

 

 

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